Kommentar-Elitarismus bei NZZ Online: 26% werden gelöscht

Letzte Woche habe ich bei der Internet-Briefing-Veranstaltung „User Generated Content – keine Angst vor dem Kunden“ über „Online-Kommentare – mehr als Leserbriefe 2.0“ gesprochen. Ich hatte vorher und nachher ziemlichen Stress wegen einer Art Autopanne, daher hatte ich keine Zeit, etwas darüber zu schreiben. Marcel Bernet hat das dankenswerterweise bei sich gemacht.

Mein Vortrag wäre für den geneigten Leser unserer Blogs nicht überraschend gewesen, weil ich nur erzählt habe, was wir jeden Tag machen, und dass das „Kommentarwesen“ einen zwar machmal schon etwas stresst, aber dass die Kommentare insgesamt einen grossen Mehrwert darstellen, der deutlich höher einzuschätzen ist als das bisschen Ärger (bitte mir diese Passage vorlegen, wenn es demnächst mal wieder so weit sein sollte).

Unsere Kommentar-Policy, die es nicht einmal schriftlich gibt, beruht auf der Maxime: Wir schauen mal, was passiert, und greifen nur ein, wenn es unbedingt nötig ist. Meine „Top-Kommentarkiller“ hat jeder Blogger oder Blogleser schon einmal erlebt: Registrationszwang, manuelles Freischalten, Real-Name-Zwang, Kommentare löschen oder nicht beantworten, Korrekturen nicht in Beitrag einarbeiten, überhebliche oder aggressive Antworten.

Direkt nach mir kam Urs Holderegger von NZZ Online und stellte vor, was sie in dieser Hinsicht machen, denn seit dem Relaunch vom Juli 2007 kann man auch bei der NZZ kommentieren. (Auch dazu hat Marcel Bernet inzwischen seine Notizen gepostet: „NZZ Online: Leser droht mit Kommentar?„)

Der beste Satz von Urs war der erste: „Wir machen eigentlich alles das, was Peter als ‚Kommentarkiller‘ bezeichnet hat.“ Wenigstens sind sie erfrischend ehrlich. Sie haben andere News-Sites und die Diskussionen dort analysiert und einen eigenen Ansatz entwickelt, zu dem sie nun auch stehen (auch wenn Urs später beim Rausgehen halb entschuldigend meinte, er habe „halt eine 228-jährige Tradition da drüben“, auf die er Rücksicht nehmen müsse).

Den Ansatz halte ich allerdings grösstenteils für falsch. In Kurzform kann man sagen, dass NZZ Online es geschafft hat, das klassische „Leserbriefmodell“ der Zeitung – Leser schreibt als Reaktion auf Artikel, Zeitung entscheidet, was „abgedruckt“ wird, eine Diskussion der Leser untereinander findet nicht statt – ins Web zu portieren. Das kann man so machen, nur hat das nach meinem Verständnis mit User Participation im Sinne von Web 2.0 nichts zu tun.

Die beeindruckendste Zahl: Von 13 500 eingegangenen Kommentaren wurden 3 500 (26%) nicht freigeschaltet. Die Ablehnungsgründe, über die wohl weitgehend Konsens besteht (Rassismus, Sexismus, Beleidigungen) machen davon nur „rund 10%“ aus, der Rest wird gelöscht wegen fehlender Qualität. Wer sich „nicht genug überlegt hat“ (!), kommt nicht rein, das gilt für die Inhalte wie für formale Schwächen wie Rechtschreibfehler.

Interessant fand ich die Bemerkung, dass sie mit ihrem CMS Kommentare nicht editieren können. Ich hatte vorher gesagt, dass wir manchmal – sehr selten – etwas aus einem Kommentar rauseditieren und z.B. schreiben: „(Hier wurde ein Satz wegen … gelöscht.)“ Das kann die NZZ nicht, weil ihr CMS es nicht unterstützt – „bei uns gibt es nur Daumen hoch oder runter“.

In meinem Teil hatte ich gesagt, dass die Kommentatoren in den Blogwerk-Blogs für einen deutlichen Mehrwert sorgen. „Die Diskussionen in unseren Kommentaren finde ich inhaltlich viel spannender als den durchschnittlichen Leserbrief“, war meine Aussage. (Ehrlich gesagt habe ich mich hier etwas aus dem Fenster gelehnt, weil ich die Leserbriefseiten in Zeitungen nur sehr selten lese. Dieses tendenziell oberlehrerhafte Rumnörgeln von Leuten, denen ein Artikel zu rechts oder zu links oder was auch immer ist, kann ich nicht aushalten.) Das fand Urs natürlich nicht. Er meinte im Gegenteil: „Wer einen Leserbrief an eine Zeitung schreibt, der hat sich meist etwas überlegt und gibt sich entsprechend Mühe. Von Kommentatoren kann man das nicht immer sagen.“

Das mag sogar stimmen. Aber ich bin ganz dezidiert der Meinung, man muss auch die weniger hilfreichen Kommentare in Kauf nehmen, um auch die Perlen zu bekommen. Was die NZZ-Online-Redaktion ihrer Arbeit zugrunde legt, ist eine fiktive Kommentar-Qualitätsskala, sagen wir von 1 bis 100, mit der sie jeden Kommentar bewerten, und ab, sagen wir, 40 Punkten wird freigeschaltet. Ich bezweifle aber sehr, dass einerseits die mit der Selektion beauftragten Redaktoren alle mit der gleichen Skala messen, und andererseits ist völlig klar, dass die individuelle Bewertung eines Kommentars pro Leser teilweise stark abweichen dürfte.

Um mir selbst mal wieder zu vergegenwärtigen, wie „unsere Kommentare“ eigentlich sind, habe ich soeben die letzte Diskussion bei neuerdings.com nachgelesen, die mehr als zehn Kommentare ausgelöst hat; das war zu meinem iPhone-Artikel vom Montag. Von bisher 16 eingegangenen Kommentaren sind vier off topic, indem sie sich auf andere Dinge als den Inhalt des Artikels beziehen (Blogdesign, Mehrwertsteuer, WordPress, Verlosung), einer ist weitgehend inhaltsfrei, einer ist redundant, sieben sind Antworten auf die anderen Kommentare – und zwei sind sehr gut, indem sie aktuelle, weiterführende Links enthalten. Für diese beiden muss man halt die anderen „ertragen“, aber ich finde die anderen „Diskussionsfäden“ keineswegs völlig nutzlos.

Wie hätte diese Diskussion bei NZZ Online ausgesehen? Wäre überhaupt ein einziger Kommentar durchgekommen? Wahrscheinlich nur die beiden, aber wer weiss, ob die überhaupt gekommen wären, wenn vorher dort „Kommentare: 0“ gestanden hätte.

Nee, nee, das wär nichts für mich. Ich will genauso kommentieren und diskutieren wie es hier zu sehen ist und nicht anders. Dieses manchmal polemische, aber oft selbstironische, oft geschwätzige, aber genauso oft unschlagbar präzise und aktuelle, zwar manchmal anonyme, aber fast immer persönlich Stellung beziehende und daher authentische (auch wenn ich das Wort hasse) macht eben genau den Reiz aus.

Wir führen manchmal die Diskussion, ob wir überhaupt „echte Blogger“ seien oder eher ein Online-Verlag, und je nach Tagesform sind wir unterschiedlicher Meinung. Aber an dieser Stelle denke ich wieder, nein, wir sind eben doch waschechte Blogger.

Vielleicht in diesem Kontext ganz interessant ist ein Artikel über Kommentar-Usability, den wir (Zeix) im Oktober für die Netzwoche geschrieben haben: «Leserbriefe schreiben doch nur Rentner und Nörgler».)

9 Gedanken zu „Kommentar-Elitarismus bei NZZ Online: 26% werden gelöscht“

  1. Gut auf den Punkt gebracht!

    Es mutet traurig an zu sehen, wie die NZZ den Sprung in die digitale Neuzeit schlicht nicht schafft ? umgekehrt frage ich mich, wieso trotz allem überhaupt noch bei der NZZ kommentiert wird, wieso liefert man einer solch kommunikationsfeindlichen Onlinepublikation kostenlose Inhalte in der Form von Kommentaren?

    Im Minimum würde ich von der NZZ erwarten, dass Sie Ihre Kommentarpolitik transparent kommuniziert. Im Bereich des Kommentarformulars finden sich dazu leider keine Angaben ?

  2. Tja, wie MDS das schon sagt: wenn die NZZ das wenigstens vor dem Kommentieren einem sagen würde – man kommt sich schon blöd vor, wenn man einen längeren Kommentar schreibt und der dann nie erscheint. Ok, den Fehler macht man nur einmal.

    Andererseits kommt es auch auf das Umfeld an. Bei Blogwerk wird bislang größtenteils vernünftig kommentiert. Ich denke, da ist die Kommunikationskultur in der Schweiz auch noch etwas zivilisierter. Anderswo wirste als Redakteur wie in den erwähnten Leserbriefen nur „links“ oder „rechts“ geschimpft (manche Kollegen sogar beides am selben Tag!). Da bricht man die Kommunikation mit den Lesern irgendwann frustriert ab. Von der Art, wie sich die Leser untereinander anpflaumen, ganz abgesehen.

    Wobei das auch mit der Verlagskultur zu tun hat: Hier wird zwar wenig gelöscht (was auch nicht stimmt, den Kommentarspam bekommt der Leser ja nicht zu sehen, eigentlich löscht Blogwerk 98%!), aber es wird getan, wenn es nötig ist. Anderswo gilt irgendein grenzdebiler Wutausbruch gegen einen Redakteur oder anderen Diskutanten sogar als gut, weil er lange Flamewars auslöst und diese dann schön viele Hits bringen. Daß diese Verleger damit ihren Ruf ruinieren, weil der Leser irgendwo das Klima in Kommentaren/Forum/… doch dem Medium zurechnet (Werbespruch: „Jede Zeitung hat die Leser, die sie verdient“), realisieren sie anscheinend nicht. Und läßt man Chaos einmal zu oder gar zum Markenzeichen werden („Freitagnachmittag gehen wir zu ***** zum Trollen!), dann ist man für viele Leser halt zur Rüpel-Krawallbude geworden und die Qualität der Redaktion spielt fast keine Rolle mehr.

  3. Ciao Peter,
    die Kommentarkiller haben mir gefallen – mein Testkommentar hier ist mit einer Fantasie-email-adresse ausgestattet… ist denn Email (erforderlich) nicht auch ein Killer?
    Dann noch eine Frage zur Erfahrung mit Spam-Kommentaren, da ihr auf manuelles Freischalten verzichtet (ich gehe davon aus, dass dies die berühmten verschwommenen Buchstaben sind?)
    Und zum Schluss – lese mit Freude deine Artikel und das nächste Mal Kommentar mit meinem Namen…

  4. Tschuldigung, will hier wirklich nicht zuspammen – aber mit einer Fake-Emailadresse kann ich also kommentieren.
    Dieser Kommentar gebe ich jetzt aber gerne frei zum löschen.

  5. Mitnichten handelt es sich bei der NZZ um den Transport des guten alten Print-NL ins Internet.

    Dass ein Medienunternehmen indes anderen Kriterien zu folgen hat als etwa blog.hogenkamp.com ist evident.

    In allen seriösen Redaktionen werden Kommentare selektiert, auf die eine oder andere Weise.

    Schliesslich besteht im Qualitätsjournalismus der Anspruch, das Thema zu befördern und anzureichern und nicht, ein neues Forum zur Äusserung der freien Meinung aufzumachen.

  6. Anonym: Ja, das geht problemlos. Man könnte double-opt-in machen (Echtheit der Mailadresse bestätigen lassen), aber was bringt das.

    Kabeljau: Wie Du meinst. Ich habe auch mitnichten etwas gegen Qualitätsjournalismus. Und über Kommentar-Elitarismus habe ich mir noch keine abschliessende Meinung gebildet. Nur finde ich es ganz sicher sehr schwierig, die Grenze zu ziehen, wenn man als Raster nur schwarz und weiss zur Verfügung hat.

  7. Für Leser-Kommentare auf NZZ Online gelten folgende zusätzliche Bestimmungen: Die Verfasser von Leser-Kommentaren gewähren der NZZ AG das unentgeltliche, zeitlich und räumlich unbegrenzte Recht, ihre Leser-Kommentare ganz oder teilweise auf dem Portal zu verwenden. Eingeschlossen ist zusätzlich das Recht, die Texte in andere Publikationsorgane, Medien oder Bücher zu übernehmen und zur Archivierung abzuspeichern.

    Wer bei der NZZ kommentiert, liefert tatsächlich kostenlose Inhalte ? :(

  8. @Wolf-Dieter Roth: Neuerdings findet sich beim Kommentarformular ein Verweis auf die entsprechenden Bestimmungen, einen Ausschnitt habe ich oben zitiert.

  9. Dass der Umgang mit Kommentaren bei der NZZ ein anderer ist als in einem klassischen Blog, ist für mich nicht wirklich ein Problem, sondern Ausdruck oder Abbild der noch immer bestehenden unterschiedlichen Medienplattform: Kommentare in der NZZ werden eben wie Leserbriefe verstanden – und für den schreibenden Journalisten ist das Feedback dynamischer und sicher auch zahlreicher als mit dem guten alten Leserbrief: Um den zu schreiben, ist der Aufwand sehr viel grösser, und es droht irgendwo zwischen Impuls und Postgang der Verlust der notwendigen Energie…

    Das NZZ-online-Portal versteht sich ganz bestimmt anders als ich oder XYZ mit unseren Blogs. Und ehrlich: Wenn ich bei der NZZ Kommentare lese, dann habe ich auch da eine andere Erwartung als in einem klassischen Blog.
    Immerhin werden so bestimmt ein paar Leser animiert, sich langsam an die interaktiven Möglichkeiten des Inernet heran zu tasten.
    Allerdings scheint es mir wichtig, die NZZ deklariert ihre Praxis genauer, so wie sie es jetzt zu tun scheint.

    Ich habe mir auf jeden Fall Ihre Top-6-Kommentarkiller-Punkte fürs Neue Jahr zu Herzen genommen! Und nicht die NZZ-Praxis. Bin ja vielleicht selbstbewusst, aber nicht grössenwahnsinnig…

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